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Nähe – oder: intime Kalamitäten

Aktualisiert: 1. Mai 2022

Liebes Tagebuch,

langsam macht sich Verzweiflung breit, denn alles, woran ich denken kann, ist Z. und alles, was ich mir wünsche, ist eine Umarmung; eine unschuldige, beschützende Umarmung, in die ich mich fallen lassen kann. Aber wenn er so vor mir steht, so groß und teuflisch sexy, um meine Gunst seinem Geschlecht gegenüber bittend…


Oh Mann, was mache ich denn da? Die Vorgabe ist ein Text über „Nähe“ und alles, was mir dazu einfällt, ist eine gefühlsdusselige Offenbarung meines verkorksten Innenlebens? Ernsthaft? Das wird Jury wie Leser bestimmt überzeugen… Vielleicht sollte ich den Text meiner Anthologie „Peinlichkeiten eines Lebens“ hinzufügen? Ja, warum eigentlich nicht. Also, wo war ich?


… dann falle ich ihm gedanklich um den Hals, verliere mich in seinen Armen und werde doch im selben Moment von der Angst zurückgerissen, die mir schmerzlich bewusst macht, welcher Verletzlichkeit mich diese Nähe ausliefern würde.


Ich kann das nicht! Nein, nein, nein, ich kann das nicht! Meinetwegen bin ich der größte Komplexhaufen der Welt, aber allein der Gedanke, mich nur gedanklich der „Nähe“ anzunähern, ist zu viel. Meine Hände werden feucht und meine Atmung kann ich plötzlich hören – oh Gott, ich atme – bis ich keuche, glaube ich. Meine Gedanken ergeben keinerlei Sinn mehr oder haben auch noch nie Sinn ergeben; ich weiß es nicht mehr. Kurzatmigkeit! Das ist nicht gut. Gleich werde ich hyperventilieren und dann wird mir schwarz vor Augen werden und ich werde ohnmächtig werden und die Welt wird von mir abrücken. Die Welt wird von mir abrücken. Die Welt wird von mir abrücken und dann kann ich wieder atmen.

Gut, weiter im Text – etwas unemotionaler vielleicht…


Da hilft auch die Vernunft nicht, die mir zuflüstert, dass eine Umarmung evolutionär bedingt, wie auch bei den Primaten, nur eine spontane, momentane Zuneigung ausdrückt und doch nicht mit der eigenen Auslieferung gleichzusetzen ist. Doch in diesem Augenblick ist der Moment schon wieder vorüber und eine wunderbare Möglichkeit, über den eigenen Schatten zu springen, ist vertan. Eine ungenutzte Chance in einer ellenlangen Kette ungenutzter Chancen, geschmiedet von einer Angst, die mich gefangen hält, wie Rapunzel in ihrem Turm; nur habe ich keine langen Haare mehr und Prinzen kenne ich auch keine.

Oder?


Toll! Hier ist das geschwängerte Pathos…


Oh Tagebuch, würde jemand jemals diese Seiten lesen, ließe er mich für verrückt erklären. Einerseits von Prinzen träumen, anderseits jedoch jeder netten Geste skeptisch gegenüberstehen und sich zu guter Letzt vielleicht auch noch wünschen, dieser unbekannte Prinz würde es auf sich nehmen, um Nähe und offene Zuneigung zu kämpfen, die Mauern Schicht für Schicht abzutragen.

Das ist verrückt, so verrückt, dass es nie die Seiten dieses Tagebuchs verlassen darf, aber…


…. aber nicht zu verrückt, um die beste Freundin telefonisch einzuweihen. Dabei fällt mir auf, dass sie wohl der mir am nächsten stehende Mensch ist. Immerhin umarme ich sie manchmal – zugegeben nicht unüberlegt, aber dennoch von Herzen und ohne einen solchen Nervenzusammenbruch. Kleine Schritte – mit 30+ kann man sich das doch noch leisten?

Das Freizeichen dringt über den Äther an mein Ohr. Äther; was für ein Wort!


H: Hallo?!

E: Ich kann das nicht! Ich meine, ich will wirklich, aber ich kann es nicht!

H: Was denn?

E: Aso, einen Text über „Nähe“ schreiben. Ich hab zwar schon was angefangen, aber das kann ich nicht veröffentlichen, weil ich mich ganz deutlich auf eine gewisse Person beziehe – keine Namen zwar, aber eine Initiale – und wenn bewusste Person das liest, dann vergehe ich.

H: Liest bewusste Person denn überhaupt Literaturmagazine?

E: Nein, aber vielleicht meinen Blog. Bewusste Person schätzt meine Kreativität.

H: Du weißt aber schon, dass du den Text dort nicht veröffentlichen musst?

E: Nein, ja; meistens wach ich nach dieser Überlegung auf. Leider… Zumindest bringt uns dieser Text eine Erkenntnis: mein Name ist E. und ich bin ein gigantisch-massiver Psycho.

H: Selbsterkenntnis und so, hm?

E: Danke.

H: Im Ernst, du bist eben ein Paradoxon: deine größte Sehnsucht ist gleichzeitig deine größte Angst.

E: Ich bin panisch; meine Stimme ist gefühlte drei Oktaven zu hoch und ich kann nicht mehr klar denken! Ich habe den Text sogar mit „Liebes Tagebuch“ begonnen, in der Hoffnung, Leser, Jury und bewusste Person auf eine fiktionale Fährte bezüglich des fiktionalen Hauptcharakters zu führen. Übrigens, kann es sein, dass ich in Panik dezent geschraubter spreche?

H: Fällt dir das auch auf? Aber eigentlich ist die Frage. Wie ernst nimmst du dich selbst?

E: Nach dieser Eskapade? Gar nicht mehr! Aber warte! Ich sehe, worauf du hinauswillst. Ich verpacke diese Peinlichkeit von Schreiberei in Übertreibung und damit kann ich einen Schutzwall errichten.

H: Das habe ich nicht gemeint!

E: Aber es könnte funktionieren. Das ist gut! Du bist genial! Ich schreib das gleich und wir hören einander.


Mein liebstes Tagebuch, deine Seiten kennen meine Freud‘, mein Leid, mein Ich, sind geduldig mit meiner Wenigkeit, akzeptieren, nehmen nicht und geben nur, schenken mir selbstlos die Möglichkeit, mich zu entdecken, mir selbst nahe zu kommen.

Aber ist nicht die Nähe zu sich selbst das Schützenswerteste eines Menschen – die Integrität, die uns anderen nahe bringt?



 

Veröffentlicht im Kunst-Kultur-Literatur Magazin am 26. April 2022

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