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03/04/2020

Freitag, 3. April 2020 – Kann mir mal bitte jemand die Menschen erklären?

Morgens, 7.50 Uhr, im Büro. Das Telefon läutet und ich hebe noch vor offiziellem Dienstbeginn ab. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine Dame, die mit dem gestrigen Einkauf durch unseren Einkaufsservice nicht ganz zufrieden gewesen ist. Die Butter habe zur Gänze gefehlt, Schinken und Mineralwasser wären die falschen gewesen und anstelle von bunten Ostereiern hätten wir nur einfarbige Jauseneier geliefert. Ich bin platt. Dennoch versuche ich freundlich und professionell zu bleiben, schreibe mir die Kritikpunkte auf und informiere sie, dass mein Dienst noch nicht einmal begonnen hat und ich noch nicht die Möglichkeit gehabt habe, die Unterlagen des gestrigen Einkaufsservices auch nur anzuschauen. Sie entschuldigt sich zwar für ihren frühen Anruf, plädiert aber gleich darauf an mein Verständnis, sie müsse mir das sagen, weil sie sich doch so auf die bunten Eier und den Osterschinken gefreut habe. Und die gebrachte Mineralwassermarke kenne sie nicht einmal, außerdem sei doch die bestellte im Angebot.

Scheinbar ruhig bemühe ich mich um die Erklärung, dass Mineralwasser im Angebot momentan vermutlich schnell ausverkauft wäre, ebenso vielleicht die Ostereier und biete dann an, erneut einkaufen zu gehen und die fehlenden bzw. falschen Produkte nachzubringen. An dieser Stelle sei erwähnt, von den gebrachten Produkten wollte sie nichts zurückgeben. So weit so gut.

Um eine innere Explosion ob dieser Dekadenz zu vermeiden, verschiebe ich das Beschwerdemanagement auf später und kümmere mich um das notwendige Tagesgeschäft. Heutige Essen auf Rädern-Bestellungen kontrollieren, morgige Bestellungen vorbereiten, Lieferlisten vor die Fahrer erstellen und mit der einen oder anderen Zusatzinformation zu einzelnen Kunden versehen.

Dann kommt auch schon der Kollege – mit gebotenem Sicherheitsabstand – und wir gönnen uns einen Kaffee, während ich ihn auf den neuesten Stand bringe.

„Gestern war der Teufel los“, fange ich meine Erzählung an. „Wir hatten 13 Einkäufe zu erledigen und dazu noch einige Sonderbares. Kundin X, die uns übrigens seit Montag täglich wegen ein oder zwei Produkten in den Supermarkt schickt, will, dass wir ihr in der Trafik einen Lottoschein ausfüllen. Kundin Y schickt uns los für ein Päckchen Zigaretten – leichte wohlgemerkt und erst zwei Wochen nach Krisenbeginn, also kann die Sucht nicht so groß sein. Und eine dritte Dame war mit dem Einkaufsservice nicht zufrieden, weil von etwa dreißig Produkten vier nicht ihren Vorstellungen entsprechen.“ Bevor der Kollege sich über diese Dreistigkeit echauffiert, füge ich noch hinzu: „Die fehlende Butter stand nie auf der Liste, das habe ich mittlerweile herausgefunden.“

Damit geht der Kollege endgültig durch die Decke. Erstens: Lottoscheine sind nicht lebensnotwendig. Zweitens: Zigaretten kann man auch alleine am Automaten kaufen, vor allem da sie Essen auf Rädern vor den Ausgangsbeschränkungen auch nicht gebraucht hat. Drittens: Wenn man den Menschen den kleinen Finger reicht (und die Besorgung der notwendigsten Lebensmittel anbietet), reißen sie einem den ganzen Arm aus.

 

 

Von allen Seiten hören wir derzeit, dass es sich um die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg handelt und dass wir alle zusammenhelfen sollen. Das ist für die eine Seite auch eine Selbstverständlichkeit, aber sollte nicht auch die andere Seite helfen, indem sie die eigenen Wünsche reduziert? Man kann ja Wünsche gerne äußern, aber in „der größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ können eben nicht alle Bedürfnisse permanent gedeckt werden. Oder lebten die Menschen in der 1940er Jahren im Überfluss? Nein! Die waren froh, wenn sie halbverfaulte Äpfel neben Kadavern gefunden haben; von satt essen keine Rede. Wir haben, trotz dieser Eingriffe in den gewohnten Alltag, nach wie vor den Luxus ausreichend Lebensmittel, Kosmetika und Klopapier – allerdings immer weniger Seife – zu bekommen. Nur eben diese Dekadenz kann nicht mehr gedeckt werden. Denn war es nicht die Dekadenz der Globalisierung und der Bequemlichkeit, die uns jetzt weltweit auf den Kopf fällt? Wollte nicht jeder permanent zu Billigtarifen ins Ausland fliegen, koste es was es wolle für die Umwelt und die Gesundheit?

Kann mir mal bitte jemand die Menschen erklären?

 

Zum Abschluss der Geschichte sein noch erwähnt, Jauseneier sind genau wie Ostereier hart gekocht, nur eben nicht bunt. Und für alle Kochmuffel, wie ich selbst: Ich habe mittlerweile erfahren, dass man Eier auch ganz einfach zuhause hartkochen kann.

 

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