
Der Hohe Markt, auf dem sich heute die Ankeruhr befindet, war im Mittelalter das Zentrum öffentlichen Lebens dieser Stadt. Sein Name deutet bereits auf seine Wichtigkeit hin, denn er war der höchste aller Märkte.
So fand man dort von 1325 bis 1850 auch ein Hohes Gericht – die Schranne. Sie stand etwa in dem Haus, das heute die Nummer 11 trägt und ein Ende der Ankeruhr stützt. Und das könnte sich zugetragen haben...
Der Hohe Magistrat tritt hinaus auf die Terrasse der Schranne. In seinen Händen hält er ein zusammengerolltes Pergament. Zu seinen Füßen haben sich hunderte Wiener geschart. Sie harren seinem Urteil. In der ersten Reihe steht eine Frau mit feuerroten Haaren. Sie zerrt an den beiden Wachmännern, die sie festhalten. Der Magistrat wirft ihr einen mitleidigen Blick zu. Eben hat er noch in der hauseigenen Kapelle für ihre besessene Seele gebetet. Er zweifelt, ob dies hilfreich gewesen ist. Er räuspert sich und entrollt das Pergament. Mit lauter Stimme verkündet der Magistrat ihr Todesurteil am Scheiterhaufen, nachdem sie drei Tage am Pranger ausgestellt gewesen sein wird. Die Rothaarige schreit ihn an, zerrt an den Wachen und spuckt in seine Richtung. Doch seine Erhabenheit schützt ihn vor ihrem Frevel.
Unter dem Jubel der Masse wird die Frau die wenigen Schritte zum Pranger geschleift. Es braucht letztendlich vier Männer, um sie dort sicher festzubinden. Noch bevor die Männer das Podest verlassen können, werfen die Wiener ihr verfaultes Obst. Einen hat es fast erwischt. In letzter Sekunde duckt er sich und die grün-schimmlige Tomate klatscht der Hexe auf die Brüste. Das Publikum biegt sich vor Lachen. Eine ganze Ernte prasselt nun auf sie ein.
Der Magistrat auf seiner Terrasse hat genug gesehen. Er rollt das Pergament zusammen und begibt sich wieder in die Schranne. Es ist Zeit für ein weiteres Gebet in der
hauseigenen Kapelle, die „Zur Todesangst Christi“ heißt.
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